Mallorca Zeitung

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"Anders als meine mallorquinischen Freunde": deutsche Schuldgefühle einer Auswandererfamilie

Anna-Lina Mattar zog mit ihrer Familie nach Artà, als sie drei war. Jetzt hat sie einen preisgekrönten Comic über ihre wenig angenehme Familiengeschichte im Dritten Reich veröffentlicht

Anna-Lina Mattar mit ihrem Buch „El anillo de la serpiente“.

Immer wieder hatte Anna-Lina Mattar (Köln, 1990), die auf Mallorca aufwuchs, versucht, sich mit ihrem Vater über die Geschichte ihrer Familie zu unterhalten, die während der NS-Zeit im ostwestfälischen Dorf Schlangen (nahe Paderborn) lebte. Erst mithilfe einer Anekdote über einen schlangenförmigen Ring, den ihre Großeltern einst in ihrem Sofa fanden, schaffte sie es, das Schweigen des Vaters zu brechen. In der 120-seitigen Graphic Novel „El anillo de la serpiente“ (Garbuix Books, 19,95 Euro) schildert sie die Geschehnisse auf eindrucksvolle Weise. Nun gewann sie dafür die Auszeichnung Premio Valencia de Novela Gráfica 2023. Im MZ-Interview spricht Mattar auf Spanisch – Deutsch rede sie ausschließlich mit ihren Eltern.

Warum geht es in dem Buch so viel um Ihren Vater, wo er doch erst 1946 geboren wurde?

Ursprünglich wollte ich, dass meine Oma die Protagonistin wird. Es sollte darum gehen, was sie während der Nazizeit gemacht hat, wo sie während des Kriegs war, welche Rolle die Frauen im ländlichen Deutschland spielten etc. Aber als ich begann, mit meinem Vater darüber zu sprechen, und er sich endlich öffnete, hat sich der Fokus verschoben. Hin zu der Thematik, was es bedeutet, deutsch zu sein. All diese Schuld, die allein dadurch besteht, dass man Deutscher ist. Diese Schuldgefühle sind für meinen Vater sehr präsent, obwohl er nach dem Krieg auf die Welt gekommen ist.

Für Sie selbst auch?

Ich persönlich hege nur wenige Schuldgefühle, aber ich habe in der Beziehung zu meinem Vater immer dieses Tabuthema gespürt. Das empfand ich schon als Kind seltsam. Denn ich habe gemerkt, dass die Familien meiner Freunde auf Mallorca – obwohl auch hier eine Diktatur geherrscht hatte – kein Problem mit ihrer Vergangenheit hatten. Sie konzentrieren sich mehr auf ihren kulturellen Hintergrund. Den habe ich gar nicht, meine Familie hat mir nicht einmal deutsche Weihnachtslieder beigebracht. Da war immer so eine Kiste in meinem Kopf, die halb leer war. Möglicherweise ist das für Leute meiner Generation, die in Deutschland aufgewachsen sind, nicht so präsent, denn sie haben natürlich mehr Referenzen dafür, was es bedeutet, deutsch zu sein. Im Ausland aufzuwachsen führt wohl automatisch dazu, dass man mehr darüber reflektiert, was nationale Identität ist.

Fühlen Sie sich denn deutsch?

Nicht wirklich, aber irgendwie werde ich ja trotzdem in diese Schublade gesteckt. Wenn ich rede, merkt in Spanien niemand, dass ich Ausländerin bin. Aber wenn sie mein Gesicht sehen, oder meinen Namen lesen, dann muss ich immer erklären, wo ich herkomme. Teilweise ist es mir etwas unangenehm, zu sagen, dass ich Deutsche bin.

Assoziieren die Mallorquiner Deutsche heute nicht eher mit Massentourismus und reichen Zweithausbesitzern als mit Nazis?

Das kann gut sein. Manche, die hören, dass ich Deutsche bin, denken vielleicht an die Nazizeit, viele andere aber auch gar nicht. Konfrontiert hat mich nie jemand damit. Aber die Gedanken sind eben in meinem Kopf.

Ist es wichtig und richtig, dass wir Deutschen uns weiterhin schuldig fühlen, um nicht zu vergessen, was passiert ist?

Schuldgefühle sind generell nicht sehr nützlich, um im Leben voranzukommen. Ich denke, wir jüngeren Generationen haben eine Verantwortung gegenüber der Erinnerung und müssen sie aufrechterhalten, damit sie nicht in Vergessenheit gerät. Nicht nur auf der nationalen Ebene, sondern auch auf der persönlichen. Denn letztlich setzt sich die große Geschichte doch aus den vielen kleinen Geschichten zusammen. Ob und wie sie erzählt werden, liegt an uns. Aber wir sind nicht für die Taten an sich verantwortlich, die Personen früher begangen haben.

Wiedersehen am Grab: Ausschnitte aus dem Grafic Novel "El anillo de la serpiente" Anna-Lina Mattar

Hat es Ihnen persönlich geholfen, die Familiengeschichte in einem Comic aufzuarbeiten?

Ich glaube, ja. Etwas Kreatives mit dieser Geschichte zu machen, die nicht sehr angenehm ist, tat gut. Und meinem Vater hat es geholfen, endlich das Schweigen zu brechen. Es gab so vieles, das in der Familie einfach totgeschwiegen wurde, aber es musste raus.

Was kann ein Comic dem Leser vermitteln, was ein Roman nicht schafft?

Bilder können Dinge vermitteln, die man mit Worten nicht beschreiben kann, oder für die man sehr viele Worte bräuchte. Der Comic bedient sich einer sehr viel synthetischeren Sprache. Er kann viele Dinge mit sehr viel weniger erklären. Und ich kann im Comic meine beiden Leidenschaften, die Soziologie und die Illustration, vereinen.

Was hat Ihre Eltern damals dazu veranlasst, nach Mallorca zu ziehen?

Meine Eltern besuchten oft eine meiner Cousinen, die einen Mallorquiner geheiratet hatte. Sie entschieden, dass es ein guter Ort sei, um Kinder großzuziehen. Meine Mutter reiste beruflich durch ganz Europa, mein Vater als Goldschmied konnte seine Arbeit auf die Insel verlegen.

Vor 15 Jahren sind Sie zum Studieren nach Barcelona gezogen und dort geblieben. Halten Sie weiterhin den Kontakt zu Mallorca?

Einige Kontakte habe ich noch, ich bin etwa drei Mal im Jahr auf der Insel. Neulich wurde ich aber erstmals im professionellen Kontext von Mallorca aus kontaktiert. Ich habe das Poster für das Cool-Days-Festival in Artà gestaltet. Über den Auftrag habe ich mich sehr gefreut.

Ihre Kindheit als Deutsche auf Mallorca gibt bestimmt auch einen guten Comic-Stoff her. Können Sie sich das vorstellen?

Gute Idee, darüber habe ich noch nie nachgedacht (lacht). Irgendwann vielleicht schon, ja.

Wird „El anillo de la serpiente“ auch auf Deutsch veröffentlicht?

Ich hoffe, ja. Noch gibt es keinen konkreten Verlag, aber das fände ich klasse.

Am 19. Juli um 19 Uhr stellt Mattar das Buch in der Buchhandlung Rata Corner (Palma) vor.

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